URTEIL DES GERICHTSHOFES
28. April 1998 (1)
„Freier Dienstleistungsverkehr Erstattung in einem anderen Mitgliedstaat
angefallener Krankheitskosten Vorherige Genehmigung der zuständigen
Krankenkasse Gesundheit Zahnbehandlung“
In der Rechtssache C-158/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag von der
luxemburgischen Cour de cassation in dem bei dieser anhängigen Rechtsstreit
Raymond Kohll
gegen
Union des caisses de maladie
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 59
und 60 EG-Vertrag
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten C. Gulmann, H. Ragnemalm (Berichterstatter) und
M. Wathelet sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida,
P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch,
P. Jann und L. Sevón,
Generalanwalt: G. Tesauro
Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
von Raymond Kohll, vertreten durch Rechtsanwälte Jean Hoss und Patrick
Santer, Luxemburg,
der Union des caisses de maladie, vertreten durch Rechtsanwalt Albert
Rodesch, Luxemburg,
der luxemburgischen Regierung, vertreten durch den Inspecteur de la
sécurité sociale première classe Claude Ewen, Ministerium der sozialen
Sicherheit, als Bevollmächtigten,
der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und
Regierungsrätin Sabine Maaß, Bundesministerium für Wirtschaft, als
Bevollmächtigte,
der griechischen Regierung, vertreten durch den Rechtsberater beim
Rechtsrat des Staates Vasileios Kontolaimos und die wissenschaftliche
Mitarbeiterin für Gemeinschaftsrechtsfragen beim Außenministerium
Stamatina Vodina als Bevollmächtigte,
der französischen Regierung, vertreten durch die Abteilungsleiterin in der
Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige
Angelegenheiten Catherine de Salins und durch den Sekretär für auswärtige
Angelegenheiten Philippe Martinet, ebenda, als Bevollmächtigte,
der österreichischen Regierung, vertreten durch Michael Potacs,
Bundeskanzleramt, als Bevollmächtigten,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Stephanie
Ridley, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte, Beistände:
David Pannick, QC, und Barrister Philippa Watson,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Maria
Patakia, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Raymond Kohll, vertreten durch
Rechtsanwälte Jean Hoss und Patrick Santer, der Union des caisses de maladie,
vertreten durch Rechtsanwalt Albert Rodesch, der luxemburgischen Regierung,
vertreten durch Claude Ewen, der griechischen Regierung, vertreten durch
Vasileios Kontolaimos, der französischen Regierung, vertreten durch Jean-François
Dobelle, stellvertretender Direktor in der Direktion für Rechtsfragen des
Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, und durch
Philippe Martinet, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch
Richard Plender, QC, und Barrister Philippa Watson, und der Kommission,
vertreten durch Jean-Claude Séché, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten, in der
Sitzung vom 15. Januar 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16.
September 1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die luxemburgische Cour de cassation hat dem Gerichtshof mit Urteil vom 25.
April 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Mai 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 59 und 60 EG-Vertrag zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger Raymond
Kohll, einem luxemburgischen Staatsangehörigen, und seiner Krankenkasse, der
Union des caisses de maladie (UCM). Es geht um den Antrag eines in Luxemburg
niedergelassenen Arztes, der minderjährigen Tochter des Klägers eine
Zahnregulierung bei einem Zahnarzt in Trier (Deutschland) zu genehmigen.
- 3.
- Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 7. Februar 1994 im Anschluß an eine
ablehnende Stellungnahme der ärztlichen Kontrollstelle der sozialen Sicherheit mit
der Begründung abgelehnt, die Behandlung sei zum einen nicht dringend und
könne zum anderen in Luxemburg erbracht werden. Der Bescheid wurde mit
Bescheid des Verwaltungsrats der UCM vom 27. April 1994 bestätigt.
- 4.
- Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Klage zum Conseil arbitral des assurances
sociales, wobei er geltend machte, die angezogenen Bestimmungen verstießen
gegen Artikel 59 EG-Vertrag. Die Klage wurde mit Urteil vom 6. Oktober 1994
abgewiesen.
- 5.
- Hiergegen legte der Kläger Berufung zum Conseil supérieur des assurances sociales
ein. Dieser bestätigte die angefochtene Entscheidung mit Urteil vom 17. Juli 1995.
Artikel 20 des luxemburgischen Code des assurances sociales und die Artikel 25
und 27 der Satzung der UCM seien mit der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des
Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf
Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern (durch die Verordnung [EG] Nr. 118/97 des
Rates vom 2. Dezember 1996, ABl. 1997, L 28, S. 1, geänderte und aktualisierte
Fassung), vereinbar.
- 6.
- Nach Artikel 20 Absatz 1 des Code des assurances sociales, der mit Gesetz vom 27.
Juli 1992 erlassen wurde und am 1. Januar 1994 in Kraft trat, können sich
Versicherte, sofern es sich nicht um eine dringende Behandlung im Fall einer im
Ausland aufgetretenen Krankheit oder eines dort eingetretenen Unfalls handelt,
nur nach vorheriger Genehmigung des zuständigen Trägers der sozialen Sicherheit
im Ausland behandeln lassen oder an ein Behandlungszentrum oder ein Zentrum
wenden, das Hilfsmittel liefert.
- 7.
- Die Voraussetzungen und Bedingungen der Genehmigung sind in den Artikeln 25
bis 27 der Satzung der UCM in der Fassung geregelt, die am 1. Januar 1995 in
Kraft trat. Nach Artikel 25 darf die Genehmigung nicht für Leistungen erteilt
werden, für die nach inländischem Recht keine Kostenerstattung in Betracht
kommt. Nach Artikel 26 wird eine genehmigte Behandlung zu den Tarifen
übernommen, die für die Sozialversicherten des Staates gilt, in dem die Behandlung
erfolgt. Nach Artikel 27 wird die Genehmigung nach einer ärztlichen Überprüfung
auf schriftlichen Antrag eines in Luxemburg niedergelassenen Arztes erteilt, in dem
der Arzt oder das Krankenhaus, der oder das dem Versicherten empfohlen wird,
sowie die Umstände und Kriterien angegeben sind, derentwegen die fragliche
Behandlung in Luxemburg nicht durchgeführt werden kann.
- 8.
- Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:
„(1) Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der die nach den Rechtsvorschriften des
zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen,
gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 18, erfüllt und
...
c) der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in das
Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine seinem
Zustand angemessene Behandlung zu erhalten,
hat Anspruch auf:
i) Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des
Aufenthalts- oder Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden
Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre; die Dauer der
Leistungsgewährung richtet sich jedoch nach den Rechtsvorschriften des
zuständigen Staates;
ii) Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger
geltenden Rechtsvorschriften. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen
Träger und dem Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts können diese
Leistungen jedoch vom Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts nach den
Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für Rechnung des zuständigen
Trägers gewährt werden.
(2) ...
Die nach Absatz 1 Buchstabe c) erforderliche Genehmigung darf nicht verweigert
werden, wenn die betreffende Behandlung zu den Leistungen gehört, die in den
Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dessen Gebiet der
Betreffende wohnt, und wenn er in Anbetracht seines derzeitigen
Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs der Krankheit diese
Behandlung nicht in einem Zeitraum erhalten kann, der für diese Behandlungen
in dem Staat, in dem er seinen Wohnsitz hat, normalerweise erforderlich ist.
(3) Die Absätze 1 und 2 finden entsprechend auf die Familienangehörigen eines
Arbeitnehmers oder Selbständigen Anwendung.
...“
- 9.
- Der Kläger legte gegen das Urteil des Conseil supérieur des assurances sociales
Kassationsbeschwerde ein, in der er u. a. geltend machte, das angefochtene Urteil
überprüfe die Vereinbarkeit des nationalen Rechts nur mit der Verordnung Nr.
1408/71, nicht aber mit den Artikeln 59 und 60 EG-Vertrag.
- 10.
- Die Cour de cassation stellte fest, daß diese Rüge eine Frage der Auslegung des
Gemeinschaftsrechts aufwarf. Sie hat das Verfahren ausgesetzt und dem
Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind die Artikel 59 und 60 des Vertrages zur Gründung der EWG dahin
auszulegen, daß sie einer Regelung entgegenstehen, die die Übernahme der
Kosten für erstattungsfähige Leistungen von der Genehmigung durch eine
Einrichtung der sozialen Sicherheit des Versicherten abhängig macht, wenn
die Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnstaat des
Versicherten erbracht werden?
2. Ändert es etwas an der Antwort auf die vorangegangene Frage, wenn die
Regelung den Zweck hat, eine finanziell ausgewogene, allen offenstehende
ärztliche und klinische Versorgung in einer bestimmten Region
aufrechtzuerhalten?
- 11.
- Diese Fragen sind zusammen zu erörtern. Das vorlegende Gerichte möchte wissen,
ob eine Regelung der sozialen Sicherheit der im Ausgangsverfahren streitigen Art
gegen die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag verstößt.
- 12.
- Nach Ansicht des Klägers verstößt die streitige Regelung, die die Erstattung von
Kosten für Zahnregulierung durch einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat
nach den Tarifen des Versicherungsstaats von der Genehmigung des Trägers der
sozialen Sicherheit des Versicherten abhängig macht, gegen die Artikel 59 und 60
EG-Vertrag.
- 13.
- Die UCM sowie die luxemburgische, die griechische und die Regierung des
Vereinigten Königreichs machen geltend, daß diese Artikel keine Anwendung
finden oder der Beibehaltung der fraglichen Regelung nicht entgegenstehen. Die
deutsche, die französische und die österreichische Regierung teilen die
letztgenannte Auffassung.
- 14.
- Die Kommission bringt vor, die fragliche Regelung behindere den freien
Dienstleistungsverkehr, könne aber unter bestimmten Umständen durch zwingende
Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein.
- 15.
- Angesichts der abgegebenen Erklärungen sind zunächst die Anwendung des
Grundsatzes des freien Verkehrs im Bereich der sozialen Sicherheit, dann die
Auswirkungen der Verordnung Nr. 1408/71 und schließlich die Anwendung der
Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr zu erörtern.
Die Anwendung des elementaren Grundsatzes des freien Verkehrs im Bereich der
sozialen Sicherheit
- 16.
- Die luxemburgische, die griechische und die Regierung des Vereinigten Königreichs
tragen vor, die streitige Regelung falle nicht unter die gemeinschaftsrechtlichen
Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr, da sie die soziale Sicherheit
betreffe; sie sei daher nur an Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 zu messen.
- 17.
- Nach ständiger Rechtsprechung läßt das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der
Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt
(Urteile vom 7. Februar 1984 in der Rechtssache 238/82, Duphar u. a., Slg. 1984,
523, Randnr. 16, und vom 17. Juni 1997 in der Rechtssache C-70/95, Sodemare
u. a., Slg. 1997, I-3395, Randnr. 27).
- 18.
- In Ermangelung einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene bestimmt somit das
Recht eines jeden Mitgliedstaats, unter welchen Voraussetzungen zum einen ein
Recht auf Anschluß an ein System der sozialen Sicherheit oder eine Verpflichtung
hierzu (Urteile vom 24. April 1980 in der Rechtssache 110/79, Coonan, Slg. 1980,
1445, Randnr. 12, und vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-349/87, Paraschi,
Slg. 1991, I-4501, Randnr. 15) und zum anderen ein Anspruch auf Leistung (Urteil
vom 30. Januar 1997 in den Rechtssachen C-4/95 und C-5/95, Stöber und Piosa
Pereira, Slg. 1997, I-511, Randnr. 36) besteht.
- 19.
- Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten, wie der Generalanwalt in den Nummern
17 bis 25 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, bei der Ausübung dieser Befugnisdas Gemeinschaftsrecht beachten.
- 20.
- So hat der Gerichtshof festgestellt, daß die Besonderheiten bestimmter
Dienstleistungen nicht dazu führten, daß diese nicht unter den elementaren
Grundsatz des freien Verkehrs fielen (Urteil vom 17. Dezember 1981 in der
Rechtssache 279/80, Webb, Slg. 1981, 3305, Randnr. 10).
- 21.
- Daß die streitige Regelung zum Bereich der sozialen Sicherheit gehört, schließt
daher die Anwendung der Artikel 59 und 60 EG-Vertrag nicht aus.
Die Auswirkungen der Verordnung Nr. 1408/71
- 22.
- Nach Auffassung der UCM und der luxemburgischen Regierung stellt Artikel 22
der Verordnung Nr. 1408/71 den Grundsatz auf, daß für jede Behandlung in einem
anderen Mitgliedstaat eine vorherige Genehmigung erforderlich ist. Die Angriffe
gegen die nationalen Bestimmungen über die Übernahme im Ausland erlangter
Leistungen richteten sich letztlich auch gegen die Gültigkeit der entsprechenden
Bestimmung der Verordnung Nr. 1408/71.
- 23.
- Im Verfahren vor dem Gerichtshof hat der Kläger vorgetragen, er habe von der
UCM die Erstattung des Betrages verlangt, auf den er Anspruch gehabt hätte,
wenn die Behandlung von dem einzigen Facharzt vorgenommen worden wäre, der
damals in Luxemburg tätig gewesen sei.
- 24.
- Hierzu macht die UCM geltend, der Grundsatz der Einheit der Tarife der sozialen
Sicherheit wäre zwar gewahrt, wenn der luxemburgische Tarif angewandt worden
wäre; die Verordnung Nr. 1408/71 zwinge sie jedoch dazu, die Kosten nach dem
Tarif zu erstatten, der im Staat der Leistung gelte.
- 25.
- Der Umstand, daß eine nationale Maßnahme möglicherweise einer Bestimmung
des abgeleiteten Rechts hier dem Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71
entspricht, hat nicht zur Folge, daß sie nicht an den Bestimmungen des EG-Vertrags zu messen wäre.
- 26.
- Zudem soll Artikel 22 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, wie der
Generalanwalt in den Nummern 55 und 57 seiner Schlußanträge ausgeführt hat,
dem Versicherten, der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich
in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine seinem
Zustand angemessene Behandlung zu erhalten, insbesondere dann erlauben, ohne
zusätzliche Kosten Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers nach den
Rechtsvorschriften des Staates zu erhalten, in dem die Leistungen erbracht werden,
wenn dies wegen seines Gesundheitszustands erforderlich ist.
- 27.
- Bei zweckgerichteter Auslegung regelt Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71
hingegen nicht den Fall, daß die Kosten für eine in einem anderen Mitgliedstaat
ohne vorherige Genehmigung erbrachte Behandlung zu den Sätzen erstattet
werden, die im Versicherungsstaat gelten, und hindert die Mitgliedstaaten daher
nicht an einer solchen Erstattung.
- 28.
- Somit ist zu prüfen, ob eine Regelung der streitigen Art mit den Bestimmungen des
EG-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr vereinbar ist.
Die Anwendung der Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr
- 29.
- Im Ausgangsverfahren geht es um eine Behandlung in der Praxis eines in einem
anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Zahnarztes. Diese entgeltliche Leistung ist
eine Dienstleistung im Sinne des Artikels 60 EG-Vertrag, der die freiberuflichen
Tätigkeiten ausdrücklich nennt.
- 30.
- Zu erörtern ist deshalb, ob eine Regelung der streitigen Art die Ausübung des
freien Dienstleistungsverkehr behindert und ob sie gegebenenfalls objektiv
gerechtfertigt ist.
Die beschränkenden Wirkungen der streitigen Regelung
- 31.
- Der Kläger und die Kommission sind der Auffassung, es stelle eine Beschränkung
des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne der Artikel 59 und 60 EG-Vertrag dar,
daß die Übernahme erstattungsfähiger Krankheitsleistungen nach den Modalitäten
des Rechts des Versicherungsstaats von der vorherigen Genehmigung des Trägers
dieses Staates abhängig gemacht werde, wenn die Leistungen in einem anderen
Mitgliedstaat erbracht würden.
- 32.
- Die Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, sind hingegen der
Auffassung, daß die streitige Regelung eine Beschränkung des freien
Dienstleistungsverkehrs weder bezwecke noch bewirke, sondern nur die
Bedingungen für eine Erstattung von Krankheitskosten regele.
- 33.
- Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes verstößt jede nationale Regelung
gegen Artikel 59 EG-Vertrag, die die Leistung von Diensten zwischen
Mitgliedstaaten im Ergebnis gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines
Mitgliedstaats erschwert (Urteil vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-381/93,
Kommission/Frankreich, Slg. 1994, I-5145, Randnr. 17).
- 34.
- Zwar hindert die streitige Regelung die Versicherten nicht daran, sich an einen
Dienstleistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden. Sie macht aber
die Erstattung von Kosten, die in diesem Mitgliedstaat angefallen sind, von einer
vorherigen Genehmigung abhängig, und versagt sie den Versicherten, die keine
Genehmigung haben. Kosten, die im Versicherungsstaat anfallen, unterliegen
hingegen keiner solchen Genehmigung.
- 35.
- Daher hält eine solche Regelung die Sozialversicherten davon ab, sich an ärztliche
Dienstleistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden, und stellt
sowohl für diese wie für ihre Patienten eine Behinderung des freien
Dienstleistungsverkehrs dar (Urteile vom 31. Januar 1984 in den Rechtssachen
286/82 und 26/83, Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Randnr. 16, und vom 28.
Januar 1992 in der Rechtssache C-204/90, Bachmann, Slg. 1992, I-249, Randnr. 31).
- 36.
- Zu prüfen ist daher, ob eine Regelung der streitigen Art objektiv gerechtfertigt ist.
Die Rechtfertigung der streitigen Regelung
- 37.
- Die UCM sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben
haben, tragen vor, der freie Dienstleistungsverkehr sei nicht absolut zu setzen;
Gründe der Kontrolle der Gesundheitskosten müßten berücksichtigt werden. Eine
vorherige Genehmigung stelle das einzig wirksame und das am wenigsten
beschränkende Mittel dar, um die Gesundheitskosten zu kontrollieren und das
finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit aufrechtzuerhalten.
- 38.
- Nach Auffassung der UCM, der luxemburgischen Regierung und der Kommission
stellt die Gefahr einer Störung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der
sozialen Sicherheit, das der Aufrechterhaltung einer ausgewogenen, allen
Versicherten offenstehenden ärztlichen und klinischen Versorgung dienen solle,
einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, der Beschränkungen des
freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen könne.
- 39.
- Die Kommission fügt hinzu, die Versagung der vorherigen Genehmigung durch die
nationalen Stellen müsse durch eine wirkliche Gefahr der Störung des finanziellen
Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit gerechtfertigt sein.
- 40.
- Hierzu bringt der Kläger vor, die finanziellen Folgen für das Budget des
luxemburgischen Trägers der sozialen Sicherheit hingen nicht davon ab, ob er sich
an einen luxemburgischen oder an einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat
wende, da er die Übernahme der Krankheitskosten zu dem in Luxemburg
geltenden Tarif beantragt habe. Die streitige Regelung könne daher nicht damit
begründet werden, die Gesundheitskosten müßten kontrolliert werden.
- 41.
- Rein wirtschaftliche Gründe können eine Beschränkung des elementaren
Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs nicht rechtfertigen (in diesem Sinne
Urteil vom 5. Juni 1997 in der Rechtssache C-398/95, SETTG, Slg. 1997, I-3091,
Randnr. 23). Jedoch kann eine erhebliche Gefährdung des finanziellen
Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des
Allgemeininteresses darstellen, der eine solche Beschränkung rechtfertigen kann.
- 42.
- Entgegen dem Vorbringen der UCM und der luxemburgischen Regierung hat
jedoch die Erstattung von Kosten einer Zahnbehandlung, die in einem anderen
Mitgliedstaat erbracht wurde, nach den Tarifen des Versicherungsstaats keine
wesentlichen Auswirkungen auf die Finanzierung des Systems der sozialen
Sicherheit.
- 43.
- Die luxemburgische Regierung macht zur Rechtfertigung weiter den Schutz der
öffentlichen Gesundheit geltend; die streitige Regelung sei zum einen erforderlich,
um die Qualität der ärztlichen Leistungen zu gewährleisten, die bei denjenigen, die
sich in einen anderen Mitgliedstaat begäben, nur im Zeitpunkt des Antrags auf
Genehmigung überprüft werden könne; zum anderen solle das luxemburgische
Krankenversicherungssystem eine ausgewogene, allen Versicherten offenstehende
ärztliche und klinische Versorgung sicherstellen.
- 44.
- Der Kläger hält dem entgegen, es gebe keinen wissenschaftlichen Grund für die
Annahme, daß in Luxemburg vorgenommene Behandlungen wirksamer seien,
seitdem die Ausübung der ärztlichen Berufe von den Mitgliedstaaten gegenseitig
anerkannt werde. Die Bezugnahme auf eine ausgewogene, allen offenstehende
ärztliche und klinische Versorgung müsse als wirtschaftlicher Grund angesehen
werden, der die Finanzen der UCM schützen solle.
- 45.
- Die Mitgliedstaaten können den freien Dienstleistungsverkehr nach den Artikeln
56 und 66 EG-Vertrag aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränken.
- 46.
- Das erlaubt ihnen jedoch nicht, den Gesundheitssektor als Wirtschaftssektor
hinsichtlich des freien Dienstleistungsverkehrs vom elementaren Grundsatz des
freien Verkehrs auszunehmen (siehe Urteil vom 7. Mai 1986 in der Rechtssache
131/85, Gül, Slg. 1986, 1573, Randnr. 17).
- 47.
- Die Bedingungen des Zugangs und der Ausübung der Tätigkeiten des Arztes und
des Zahnarztes sind Gegenstand mehrerer Koordinierungs- oder
Harmonisierungsrichtlinien (siehe die Richtlinie 78/686/EWG des Rates vom 25.
Juli 1978 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und
sonstigen Befähigungsnachweise des Zahnarztes und für Maßnahmen zur
Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts
auf freien Dienstleistungsverkehr, ABl. L 233, S. 1; die Richtlinie 78/687/EWG des
Rates vom 25. Juli 1978 zur Koordinierung der Rechts- und
Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Zahnarztes, ABl. L 233, S. 10, und
die Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der
Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome,
Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, ABl. L 165, S. 1).
- 48.
- Hieraus folgt, daß in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Ärzte und Zahnärzte
für die Zwecke des freien Dienstleistungsverkehrs als ebenso qualifiziert anerkannt
werden müssen wie im Inland niedergelassene.
- 49.
- Daher kann eine Regelung der streitigen Art nicht unter Berufung auf Gründe des
Gesundheitsschutzes damit gerechtfertigt werden, daß die Qualität in anderen
Mitgliedstaaten erbrachter ärztlicher Leistungen gewährleistet werden müsse.
- 50.
- Das Ziel, eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung
aufrechtzuerhalten, ist zwar eng mit der Finanzierung des Systems der sozialen
Sicherheit verbunden, kann aber auch zu den Ausnahmen aus Gründen der
öffentlichen Gesundheit nach Artikel 56 EG-Vertrag zählen, soweit es zur
Erzielung eines hohen Gesundheitsschutzes beiträgt.
- 51.
- Artikel 56 EG-Vertrag erlaubt nämlich den Mitgliedstaaten, den freien
Dienstleistungsverkehr im Bereich der ärztlichen und klinischen Versorgung
einzuschränken, soweit die Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen
und pflegerischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im
Inland für die Gesundheit oder selbst das Überleben ihrer Bevölkerung erforderlich
ist (siehe zum Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des Artikels 36 EG-Vertrag das Urteil vom 10. Juli 1984 in der Rechtssache 72/83, Campus Oil u. a.,
Slg. 1984, 2727, Randnrn. 33 bis 36).
- 52.
- Jedoch haben weder die UCM noch die Regierungen der Mitgliedstaaten, die
Erklärungen abgegeben haben, nachgewiesen, daß die streitige Regelung
erforderlich sei, um eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische
Versorgung sicherzustellen. Keiner der Beteiligten hat vorgetragen, daß sie zur
Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen
Versorgung oder eines unabdingbaren Niveaus der Heilkunde im Inland
erforderlich sei.
- 53.
- Daher kann die streitige Regelung nicht aus Gründen des Gesundheitsschutzes
gerechtfertigt werden.
- 54.
- Daher ist zu antworten, daß eine nationale Regelung, die die Erstattung der Kosten
für Zahnbehandlung durch einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat nach
den Tarifen des Versicherungsstaats von der Genehmigung des Trägers der sozialenSicherheit des Versicherten abhängig macht, gegen die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag verstößt.
Kosten
- 55.
- Die Auslagen der luxemburgischen, der deutschen, der griechischen, der
französischen, der österreichischen und der Regierung des Vereinigten Königreichs
sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm von der luxemburgischen Cour de cassation mit Urteil vom 25. April
1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
Eine nationale Regelung, die die Erstattung der Kosten für Zahnbehandlung durch
einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des
Versicherungsstaats von der Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit des
Versicherten abhängig macht, verstößt gegen die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag.
Rodríguez Iglesias Gulmann Ragnemalm
Wathelet Mancini Moitinho de Almeida
Kapteyn Murray Edward Puissochet
Hirsch Jann Sevón
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. April 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias